Kopf & Käfer

Auch als die ersten beiden oben ankamen, war es innen nicht still. Am 6. Oktober 1889 erreichten Hans Meyer und Ludwig Purtscheller den Hauptgipfel des Kilimandscharo. An demselben Ende hält die Künstlerin 2003 sich im Querformat fest, unter ihr Büßerschnee und darüber viel Himmel in hellem Blau, kräftig durchwischt mit Weiß und Rosa. Aber am Tag ihrer Ankunft war nicht das Außen in Aufruhr, innen hat es gekocht. Denn was sich am Horizont zeigt, ist Adrenalin, jenes Hormon, das seit Jahrmillionen hilft zu fliehen oder standzuhalten, um zu überleben. Über das Außen hat sich ein unsichtbares Innen gestülpt und hält beide fest zusammen. Das ist auch bei den Porträts aus Plastik so. Eine Haut aus Eizellen oder Blutplättchen überzieht hauchdünn Köpfe, die regungslos geradeaus schauen. Die Kopfbilder hat kein Fotograf, sondern ein Automat, wie sie in Bahnhofshallen stehen, gemacht. Diese Automaten bereinigen, indem sie den Gesichtern das Persönliche nehmen. Nach dieser Bereinigung findet mittels der Häute eine Maskierung statt und im Nu geht die Sicherheit für den Abstand verloren: Das Gegenüber ist zugleich nah und fern, ein Etwas zwischen tot und lebendig.

Dabei fing alles ganz tierisch an. Die zahllosen Käfer, vorzugsweise Hirschkäfer „aus dem Käferkabinett“, haben die Naturwissenschaft mit der Kunst verbunden. Die Zeichnung hat sich mit der ältesten naturwissenschaftlichen Methode, der Anatomie, zusammengefunden und was daraus entstand, ist nicht zu überbieten an Akribie, Nüchternheit und Sorgfalt. Ähnlich wie die späteren Köpfe der Menschen tragen auch die Käfer mitunter schon Masken und zwar in Form von Transparenten, die über sie gespannt, punktiert oder beschrieben wurden, als Abdruck, in Farbe oder auch leer. Vom Papier, auf dem sich die Käfer befinden bis hin zum Plastik der Menschenköpfe ist es ein kleiner Schritt. Hier wie da geht es um die Grenze des Sehens. Bei den Käfern sind es die subtilen, zarten Striche, die der Wahrnehmung alles abverlangen, bei den Menschen ist es das zum-Objekt-werden mittels Apparatur. Das eine wie das andere ist eine Provokation, weil es ernst macht mit jenem Moment, wo die Seele sich auf und davon macht. Sie geht aus dem Bild hinaus und bleibt verschwunden. Alles, was man an ihrer statt setzt – Transparentpapier, Hautzellen oder Zellhäute - reicht nicht aus, um die Seele zurückzuhalten. Vielmehr verweist gerade die Anhäufung dieser Schichten auf ihr Fehlen.

Für Lukrez war die menschliche Haut das erste Medium, welches die Seele davon abhielt, vorzeitig den Körper zu verlassen. Aber diese Häute sind andere. Bis man imstande war, Eizellen so sichtbar zu machen, daß sie ganze Köpfe umfangen, sind sie mehr als eine Apparatur durchlaufen und jeder Durchlauf hat geschabt und sie verändert. Das Schaben konnte man bereits hören. „Brain box“ nannte die Künstlerin jene merkwürdige Schachtel mit Innenleben, die das Tönen, Lauten und Surren von Gehirnwindungen hörbar gemacht hat und zwar mit Hilfe eines Bewegungsmelders.

Auf dem Kilimandscharo 2003 war es still, der Lärm fand inwendig statt, im Kopf. Dort überschlugen sich die Geräusche, beispielsweise die der Lungen bei vermehrter Anstrengung. Die fand ihren Ausdruck in der digitalen Nachbearbeitung unten im Tal und erscheint jetzt als hormonales Himmelsgeschehen über Ostafrika, jenem Stück Erde, wo 1965 Bryan Patterson Reste vom ältesten Vormenschen gefunden hat, dessen Verdickungen am Schienbein unterhalb des Kniegelenks, darauf schließen lassen, daß diese Art vor 4,2 bis 3,8 Millionen Jahren schon aufrecht ging. Der Sprung, genauer, der Ursprung von den Bäumen in die Weite der Savanne ist geglückt und von nun an zeichnen sich Menschen durch ihre ausgesetzte Position aus.

Ähnlich wie der französische Soziologe und Philosoph Edgar Morin, der über das ernsthafte, fleißige, arbeitsame und vernünftige Gesicht von „homo sapiens“ ein zweites sich stülpen sieht, eines, das verwegen bis wahnhaft ist, legt Martina Tscherni über die Gesichter von Frauen und Männer Bilder von Zellen, Gewebe oder Blut als technisch produzierte Häute und die ästhetische Wirkung ist gerade wegen der Zurückhaltung besonders stark. Der Ort, von dem aus man die Porträts betrachtet, wandelt sich beinahe unmerklich zu einem zwischen tot und lebendig.

Aber damit nicht genug. Im Banne dieser Ungewißheit taucht nach und nach etwas auf, mit dem nicht zu rechnen war. Was auftaucht, ist eine Bestimmung des Menschen, die radikal unbestimmt bleibt und bleiben muß. Im Unterschied zum Tier brechen die Gefühle der Menschen  plötzlich aus, sie schlagen heftig um und geraten vollkommen außer Kontrolle. Auch oder gerade wenn wir zivilisiert, d.h. auf ein mittleren Niveau der Affekte gebracht sind und gelernt haben, uns zu mäßigen, gehört die Entfesselung zur menschlichen Erfahrung. Sie schafft Unordnung, Verirrung, bringt Illusionen, Maßlosigkeit, Ungewißheit über Wirkliches und Gewalt hervor. Selbst wenn man all das den bereinigten Gesichtern der Fotoautomaten nicht mehr anmerkt, ist davon ein Hauch dennoch erhalten geblieben. Gleichgültig ob es sich um den Kopf von Tini T., Stefan R., Felizian W., Sonja E. oder Udo & Vera M handelt, zwischen dem Kopf und der Haut, die auf ihm lagert, läßt sich die Spur von dem ahnen, was diskret verborgen bleibt.

Wenn nun Edgar Morin vom „homo sapiens demens“ spricht, könnte er das meinen, was Tscherni zur Darstellung bringt. Ihr gelingt die Darstellung deshalb, weil sie die Aufmerkung dem ständig drohenden Umschlag schenkt, der aus vernünftigen ganz und gar unvernünftige Menschen macht. Und ihr gelingt die Darstellung auch deshalb, weil sie derselben Art angehört und unhintergehbar darum weiß. Als Mensch niemals eins, immer zwei - weise und verrückt - zu sein und aus diesem Grund gleichermaßen beides unentwegt hervorzubringen. Das ist eine, ihre Antwort auf das Rätsel des Humanen: diskret, filigran, mehrfach geschichtet und  widersprüchlich.

 

Hall in Tirol, 15. Dezember 2003                                            Univ.-Prof.Mag.Dr.Helga Peskoller