"Malen zwingt den Geist des Malers, sich in den Geist der Natur zu verwandeln undzwischen Kunst und Natur zu vermitteln." Leonardos Bezug zur Natur zeigt sich neben der künstlerischen Praxis im wissenschaftlichen Experiment.
Martina Tschernis Bilder basieren auf einer naturwissenschaftlich orientierten Übersetzung der Wirklichkeit. Inspirationsquellen ihrer Zeichnungen und Malereien sind anatomische Fachbücher oder die Schaukästen des Wiener Naturhistorischen Museums. Käfer, Gehirnwindungen oder Teile des Gehörsystems werden um ihrer Wirklichkeit willen minutiös dargestellt, sie sind jedoch auch Ausgangspunkt für abstrakte Transformationen. Die Geschlossenheit der menschlichen Gehirnform wird zugunsten eines mäandrierend floralen Ornamentsystems über die Bildfläche ausgebreitet. Körperlichkeit und Masse werden in ein punktiertes Liniensystem aufgelöst. Die symmetrische Gestalt des Gehirns veranlaßt Tscherni zur Formanalyse. Der Gegenstand wird zum ornamentalen Motiv stilisiert. Auch der Hirschkäfer, das Lieblingssujet der Künstlerin, übernimmt die Funktion eines Moduls für die musterartige Bildstruktur. Er ist Metapher für die Schönheit und Vergänglichkeit. Nach der langwierigen Entwicklungsphase von etwa sechs Jahren liegt die Lebenserwartung des ausgewachsenen prächtigen Hirschkäfers bei drei Wochen. In anderen Arbeiten wird Naturalismus mit Ungegenständlichkeit in ein kontroversielles Spannungsfeld gestellt, wenn zum Beispiel Käfer mit einem undurchlässigen schwarzen Farbstreifen überdeckt werden.
Dem scharfkantig Geometrischen der abstrakten Fläche steht das Organische des Tieres entgegen. Die Grenzen von Naturstudie, artifizieller Zeichnung und angewandter Kunst werden bei Martina Tscherni aufgehoben.
Florian Steininger