Martina Tscherni hat sich der zeichnerischen Darstellung von natürlichen Organismen und biologischen Mikrostrukturen verschrieben. Wie sie selbst sagt, zeichnet sie leidenschaftlich gerne und sind ihre bis zu 20 Meter langen Rollen mit fortlaufenden Zeichnungen eine Art Skizzenbuch für sie. Dabei macht sie sich ganz entspannt auf den Weg. Die modernistische Angst und Panik angesichts des weißen Blattes, auf das es das ultimative Kunstwerk zu setzen gilt, kennt sie nicht. Sie macht sich ans Zeichnen wie man sich auf eine lange Reise begibt, lustvoll, Schritt für Schritt, mit dem Gefühl, viel Raum und Zeit vor sich zu haben.
M.T. erfindet in dem Sinne nichts, sondern sie überträgt, übersetzt, visualisiert. So verhilft sie Moostierchen, Kalkschwämmen, Algen, Organismen, die mit bloßem Auge nicht zu sehen wären, zu Sichtbarkeit, gibt ihnen Umriss und Gestalt. Sie zeichnet meist nach Illustrationen mikroskopischer Aufnahmen, wie sie sich in naturwissenschaftlichen Werken des 19. Jahrhunderts finden und die sie faszinieren.
Da der Ansturm dessen, was eigentlich sichtbar zu machen wäre, gigantisch und endlos ist, leistet sie sich den Luxus der Beschränkung. Manche der Formen sind voll ausgeführt und mit zeichnerischen Extras versehen, andere bleiben blass und im Vorfeld ihrer Sichtbarwerdung stecken. Durch M.T.s zeichnerische Zuwendung erhalten die dargestellten Organismen eine Art von Individualität und werden zu wiederholt auftretenden Protagonisten ihres „Skizzenbuches“. M.T. setzt ihre Formen in der Fläche frei, gewährt ihnen genug Raum zum Erscheinen, leitet sie zu guter Komposition an, lässt sie fliegen, tanzen, entlässt sie aber vor allem aus ihrem naturwissenschaftlichen Illustrationszwang. Jetzt, da sie „Kunst“ sind, können sie ihre Schönheit und Rätselhaftigkeit ganz anders entfalten.
Die Arbeit „Eisstaub (Kryokonit)“ besteht aus drei Bildebenen. Die erste Ebene bildet eine auf Stoffunterlage gedruckte Landkarte des Monte Everest Massivs, in dem M.T. und ihr Mann selbst unterwegs waren. Über die Landkarte legte M.T. am Computer bearbeitete Algenstrukturen. Diese mikroskopisch winzigen Algen finden sich in den grauen Ablagerungen der Gletscher und lagern sich nun auf dem Bild ab. In einem letzten Arbeitsschritt bestickte die Künstlerin einige der Algen Formen. Dieses Besticken verleiht ihnen eine Spur von Dreidimensionalität, macht sie bedeutsam und setzt sie völlig undemokratisch von der Menge der anderen Strukturen ab. In „Eisstaub“ verschränken sich großräumig topographische und mikroskopisch winzige Ansätze der Visualisierung von „Natur“ zu einem dichten Feld von Bezügen.
Monika Schwärzler, Webster Universität Wien